Erst ein Jahr später betritt Susanna die Kammer wieder. Ein weiterer abenteuerlicher Gang, Susanna tätigt ihn für den Enkel. Der wird daraufhin vom Wehrdienst freigestellt. Auch der Zivildienst bleibt Michael erspart.
In Äthiopien werden derzeit Versorgungsgüter entladen; die Luftwaffe hatte sie eingeflogen. In Hungergebieten zu helfen findet Michael wichtig, aber ist dafür Militär nötig? Auch Menschenrechtsorganisationen könnten das übernehmen. Michael ist jedenfalls froh, dass er keine Kaserne von innen sehen wird.
Aber warum er denn nicht zur Bundeswehr müsse, interessiert Mara.
„Frag unseren Vater!“, empfiehlt Michael. Hofft, dass die Schwester ein bisschen Tumult auslösen wird. Sie liebt das.
James. Erläutert in lausekaltem Ton, dass Michael keinen Wehrdienst leisten muss, weil sein Vater Jude ist.
Ah so. Mara hatte tatsächlich keine Ahnung, dass es einem deswegen erspart bliebe, Krieg zu spielen. Aber was den jüdischen Vater angeht weiß sie Bescheid. Längst. Und würde das nicht halb so aufsehenerregend finden, wenn es bislang nicht so bange verschwiegen worden wäre.
Auch wenn die Nana ihr, Michael und Benjamin immer wieder erzählte, was auf der Flucht nach Bolivien geschah, dass der Zugwagon stundenlang stand, dass anderntags die Schiffskabine voller Flüchtlinge in Brand geriet, dass das Feuer sich im Inneren des Dampfers ausbreitete, wie ein paar wenige Passagiere es schafften, sich auf das regennasse Oberdeck zu retten – das Entscheidende wurde nie ausgesprochen. Auf Enkel-Fragen nach dem Grund der Reise hieß es, man habe sich vor dem Krieg in Sicherheit bringen wollen. So, wie zahllose andere Menschen auch. Der Krieg betraf alle, wurde betont.
Die Familie erreichte Südamerika nahezu unverletzt. Wie durch ein Wunder unverletzt, stellte Susanna fest, wenn sie von den 24 Stunden an Bord des brennenden Schiffs berichtete. Mehr Leid und Erleichterung zu bekunden war nicht erlaubt. Erich hatte Lamento verboten.
Michael, Mara und Benjamin waren Schulkinder; das Abenteuer auf dem Schiff mitsamt des glücklichen Ausgangs begeisterte sie auch ohnedies.
Später, als sie Teenager waren, das Unterrichtsmodul zum Thema Nazi-Deutschland absolviert und drei Folgen der Serie Holocaust angeschaut hatten, letztes zufällig, weil sich Mutter im Bett und Vater am Arbeitsplatz aufhielten, wussten sie Bescheid, wenn die Großmutter vom Schiffsunglück zu erzählen begann. Die erwähnte noch immer mit keinem Wort, dass sämtliche Passagiere an Bord vor ihren Nachbarn, ihrem Bäckern oder Friseur oder Kinderarzt geflohen waren. Michael, Mara und Benjamin stellten schon lange keine Fragen mehr.
Michael bleibt die Bundeswehr erspart. Seinen Freunden nicht. James entschied sich, zu reden. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, seine Tochter, 17jährig und rebellisch, anzulügen. James fiel keine Lüge ein. Michael ist doch kerngesund und somit in der Lage, durch Schlamm zu robben oder bei Sonnenaufgang um eine Kaserne zu joggen. Auch die Mahlzeiten in der Bundeswehrkantine würden dem Gastonomen-Sohn zwar nicht schmecken, aber bekommen. Und wenn er auf solche Abenteuer keine Lust hätte könnte er im Rahmen des Zivildienstes gebrechliche Mitmenschen im Rollstuhl durch den Park schieben. Oder nach Berlin abhauen, wie seine Freunde. Aber Michael darf in Hamburg sein Studium beginnen.
Susanna hatte sich in die Abstellkammer gewagt. Dorthin, wo das Gedächtnis sich nicht betäuben ließ, nicht erstarrt lag, nicht nur dann zuschnappte, wenn man ihm auf die Glieder trat. In der Kammer herrschte Verführung. Obwohl Erich das verboten hatte. Susanna beeilte sich, grub aus Kisten hervor, was die Bundeswehr benötigte. Ohne die Dokumente zuvor noch einmal gründlich durchzusehen, sandte sie sie ab. Jeder Blick darauf konnte Sehnsucht wecken. Die einzige Bedrohung hatte von orange bis türkisblau geleuchtet; um Zinn zu lösen, brauchte man Zyanid. Damals, auf der Mine bei La Paz.
Erich wollte nicht bleiben.
Als Eichmann geschnappt und nach Israel verbracht worden war gab es kein Halten mehr. Nachrichten zur Schmierwelle in Alemania, die Radio La Paz wochenlang in die Zufluchtsstätten und in die Schlupflöcher der Deutschen gesendet hatte – vergessen. Dieser Minute, da Eichmann bei Nacht und Nebel, wie Erich es ausschmückte, in ein Auto gezerrt worden war, wich jede Menge Filmwerk. Der Schnittmeister ließ fehlerhaftes Zelluloid einfach zu Boden fallen. Susanna sollte es fort kehren. Die wusste nicht wohin. So maßlos hatte Erich die Entführung beeindruckt, dass sie ihm nächtelang im Traum erschien. Susanna hörte ihn genussvoll seufzen. Ließ anderntags beim Frühstück wechselnde Darstellungen der Entführung, vorgetragen mit feierlich gesenkter Stimme, über sich ergehen. Mal wehrte sich Eichmann, was ihm Erichs Hohngelächter einbrachte, mal wehrte er sich nicht, was Erich dazu veranlasste, Betrachtungen zu Schuld und Haltung anzustellen. Doch immer hieß es: „Sollst sehen, Suse, es ist vorbei mit den Hundesöhnen. Sie sind erledigt. Auch die, die zu Hause noch unbehelligt ihr Unwesen in Gerichten und Amtsstuben getrieben haben.“
Susanna argwöhnte, dass ihr Mann glaubte, was er da redete.
Wenn der Kaffee getrunken war und die Brotkrümmel im Herdfeuer verglimmten rief Erich den gemeinsamen Neuanfang in Deutschland aus.
„Ohne unversöhnliches Lamento. Spätestens in zwei Jahren wird der Hass auf Juden doch eh so aberwitzig erscheinen, wie öffentliche Hinrichtungen auf dem Marktplatz im Mittelalter. Ach was“, verbesserte Erich sich, „in zwei Jahren wird man zwischen Juden und Nichtjuden nicht mehr unterscheiden. So unwichtig sind wir. Wir kehren heim, wir werden gebraucht!“
Es war Sonntag. Susanna wusch schweigend das Geschirr ab. Zwei Monate später zog sie die Tür des Lehmhäuschens in La Paz zum letzten Mal hinter sich zu.
Erich lebte sich wieder ein. Es kamen Enkelkinder.
Die wissen seit zwei Jahren heimlich Bescheid, dass ihr Vater Jude ist. Tatsächlich, eine Lappalie wäre das. Wenn er nicht schweigen würde.
„Warum muss Michael weder zur Bundeswehr noch Zivildienst leisten?“
Alle anderen Jungs in ihrem Umfeld verschone man nicht. Mara hatte sich vorhin dumm gestellt. Mal schauen, womit der Vater so herausrückte […]
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